1892 gehörte Tönnies zu den Gründern der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur (DGEK). Hier versuchten Menschen, einen Zustand vorzubereiten, „in welchem Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit und gegenseitige Achtung walten.“ Wie kam es dazu?
Viele Errungenschaften der offenen Gesellschaft sind uns heute selbstverständlich. Dazu zählen soziokulturelle Begegnungsstätten, Kindergärten, Wohnprojekte, Bürgerschulen sowie Angebote der Pflege- und Krankenversorgung, die ohne konfesionelle Bindung und Missionierungsauftrag auskommen.
Viele dieser Leistungen, bei denen einzig der Mensch im Mittelpunkt steht, wurden zunächst von Felix Adler und seiner Bewegung für Ethische Kultur in den USA verwirklicht. Adler (1851 – 1933) war Sohn eines deutschen Rabbiners in New York. Der Grundstein für Adlers Philosophie war die tiefe soziale Verantwortung, die im deutschen Reformjudentum kultiviert lag, womit die Ethische Bewegung auch ein Teil der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte ist.
Am 19. Oktober 1892 wurde die Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur (DGEK) nach Adlers Vorbild in Berlin gegründet. Ferdinand Tönnies war einer der Gründungsmitglieder. Ihm wurde deshalb noch im selben Jahr eine Professur an der Kieler Christian-Albrechts-Universität verweigert. Verantwortlich dafür war der preußische Kulturpolitiker Friedrich Althoff, der starken Einfluss auf die Berufung von Professoren hatte. Althoff hatte verlangt, dass Tönnies zuerst aus der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur austreten müsse. Das hat Tönnies jedoch abgelehnt. Erst nach Althoffs Tod im Jahr 1908 wurde Tönnies zum Professor ernannt.
Bis zu seinem eigenen Dahinscheiden im Jahr 1936 blieb Tönnies der Gesellschaft für Ethische Kultur treu. Bereits 1893 erschien „Ethische Kultur und ihr Geleite“ in Ferdinand Dümmlers Verlagsbuchhandlung, Berlin. Hier ging Tönnies mit christlichen Kritikern ins Gericht, aber auch mit dem Anthroposophen Rudolf Steiner. Sowohl die Evangelische Kirchenzeitung als auch Steiner hatten Ende 1892 Schmähartikel gegen die Gründung der DGEK veröffentlicht, wobei die Evangelische Kirchenzeitung auch vor antisemitischen Äußerungen nicht zurückschreckte.
Über Ferdinand Tönnies‘ „Ethische Kultur und ihr Geleite“ schrieb hingegen der im nordfriesischen Langenhorn bei Niebüll geborene Philosoph und Pädagoge Friedrich Paulsen in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Ethische Kultur vom Januar 1893: „Ich empfehle dieses Schriftchen besonders auch den Gegnern, sie werden daraus sehen, dass sie mit ihrer Feindschaft gegen die unabhängige Moral und die ethische Gesellschaft nicht allein stehen; zugleich finden sie darin die wirkliche Bedeutung der Sache in sehr ernsthafter und kräftiger Weise dargelegt.“
Randnotiz: Paulsen war kein Mitglied der DGEK, aber ihr Verfechter. Außerdem war er ein Förderer und Freund von Tönnies. Paulsen lehrte Pädagogik an der Berliner Universität. Er steht einem praktischen Humanismus nahe, der den Menschen jene Angebote macht, die sie brauchen, um ihre eigene Lebensqualität, aber auch die Lebensqualität ihrer Umgebung zu verbessern. „Nicht, was man weiß, sondern was man mit seinem Wissen anzufangen weiß, ist entscheidend für die Bildung einer Persönlichkeit.“ Heimatkunde war für ihn der Bildungsschlüssel, um an den Dorfschulen das Verständnis für die großen Zusammenhänge zu öffnen. Gleichzeitig erreichte er, dass naturwissenschaftliche Fächer und moderne Sprachen an den deutschen Gymnasien dieselbe Bedeutung erlangten wie Latein und Griechisch. Paulsen nimmt dabei jene raue Lebenswirklichkeit als verbesserungswürdige Grundlage, die er während seiner Kindheit im ländlichen Nordfriesland erlebt hatte. Er ist ein „Volksphilosoph“, wie ihn die Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte nennt.
Ferdinand Tönnies selbst verfasste ebenfalls Artikel für die Zeitschrift Ethische Kultur, die von der DGEK bis zum Verbot durch die Nazis 1936 herausgegeben wurde. Dort äußerte sich Tönnies in seinen Ethischen Betrachtungen unter anderem über die Unzulänglichkeit des Religionsunterrichts. Dieser habe keine moralische Wirkung mehr. „Um so mehr sollten Menschenfreunde, die das Übel erkennen, ihre Kräfte anstrengen, wenigstens ein Gegengewicht wirksam zu machen […] die Gesellschaft für ethische Kultur macht ein solches Ideal geltend, wenn sie die Forderung erhebt, der gesamten Jugenderziehung eine rein ethische Grundlage zu geben und zu sichern.“
Jan-Christian Petersen (9.2021)